Achtsamkeit rückte in den letzten Jahren immer stärker ins Bewusstsein. Wir wollten wissen, was dahintersteckt und haben bei Achtsamkeits-Trainerin Mag. (FH) Doris Hartl nachgefragt. Im Interview erzählt die Expertin, wie MBSR – Mindfulness-Based Stress Reduction, eine achtsamkeitsbasierte Methode zur Stressreduktion – dabei helfen kann, mit alltäglichen Belastungen besser umzugehen.

Einatmen. Ausatmen. Ganz im Hier und Jetzt sein. Genau bei der Sache, die wir gerade tun. Was eigentlich so einfach klingt, ist trotzdem oft so schwer. Denn unser Geist wandert. Ständig. Schreiben wir eine E-Mail, überlegen wir oft schon, welche Aufgabe als Nächstes auf uns wartet. Sitzen wir in einem Meeting, gehen wir gedanklich unsere Einkaufsliste durch. Und wenn wir versuchen, unserem Geist Ruhe zu verordnen, dann ist das ein bisschen so wie mit dem rosaroten Elefanten, an den man nicht denken soll – es passiert genau das Gegenteil.

Einmal alles anhalten, bitte!

Dabei wäre das bewusste Innehalten richtig gut für uns. Studien, die die positiven Effekte von Achtsamkeit belegen, sind mittlerweile zahlreich. Vor allem im medizinischen und therapeutischen Bereich wurde viel zu dem Thema geforscht. 2018 erschien etwa eine Übersicht von niederländischen WissenschaftlerInnen, in der 23 Studien über die Effekte von MBSR auf die mentale Gesundheit von ArbeitnehmerInnen analysiert wurden. Dabei konnte gezeigt werden, dass das Praktizieren von Achtsamkeit nicht nur zu einer Verringerung des Stresslevels, emotionaler Erschöpfung und psychischen Belastungen führt. Ebenso geht damit eine Verbesserung der Leistung, der Entspannung und der Schlafqualität einher.

Ganz im Moment

Aber was ist mit Achtsamkeit eigentlich genau gemeint? „Die Ursprünge reichen bis in die älteste Stufe des indischen Buddhismus zurück“, erklärt Doris Hartl. „Achtsamkeit beschreibt dabei die Qualität des Geistes, sich in vollem Umfang dessen gewahr zu sein, was gerade ist.“ Nach Prof. Jon Kabat-Zinn, einem der bekanntesten Meditations- und Achtsamkeitslehrer, bedeutet es, auf eine bestimmte Art aufmerksam zu sein: bewusst, im gegenwärtigen Augenblick und ohne zu bewerten.

„Wir schenken also der jeweiligen Erfahrung unsere gesamte Aufmerksamkeit und lernen zugleich, aus alten Mustern und reaktiven Verhaltensweisen auszusteigen“, bringt es Expertin Hartl auf den Punkt. Damit einher geht auch eine Haltung, in der wir weder über die Vergangenheit grübeln, noch uns über die Zukunft Sorgen machen. Dieses Verweilen in der Gegenwart wirkt sich wiederum positiv auf unser Befinden aus.

Glücklich im Jetzt

Matt Killingsworth, Psychologe und Glücksforscher von der University of Pennsylvania, kam in einer groß angelegten Studie zu dem Ergebnis, dass wir uns auch glücklicher fühlen, wenn wir achtsam im Augenblick sind. Untersucht wurden dazu über 650.000 Echtzeitmeldungen über das Befinden von über 15.000 Menschen, die via iPhone-App getrackt wurden. Es zeigte sich, dass die Menschen bedeutend unzufriedener sind, wenn sie gedanklich von dem abschweifen, was sie gerade tun. Besonders spannend: Es ist dabei egal, was wir tun. Wir sind also auch dann glücklicher, wenn wir etwas tun, was wir eigentlich nicht mögen – solange wir eben nur mit den Gedanken bei der Sache sind. Dass das allerdings häufig nicht der Fall ist, konnte die Studie ebenso zeigen: Knapp die Hälfe der Zeit denken wir eigentlich an etwas ganz anderes.

Wieder zur Ruhe kommen

Das mag vielleicht auch an unserer turbulenten Gegenwart liegen, in der viele das Gefühl haben, 1.000 Dinge gleichzeitig erledigen zu müssen. Hier schließt sich dann der Kreis, denn laut Doris Hartl ist die Popularität von Achtsamkeit ein gewisser Ausdruck der aktuellen Zeit: „Es ist eine Art Gegengewicht zu einer beobachtbaren Hektik und Rastlosigkeit. Viele TeilnehmerInnen in meinen Kursen wünschen sich, wieder zur Ruhe zu kommen, gelassener zu werden und ein authentisches Leben zu führen.“ Wie das gelingen kann? Eine Technik, die uns dabei helfen kann, ist das bereits erwähnte MBSR. Im anschließenden Interview erklärt die Expertin, was es damit auf sich hat und zeigt anhand von zwei Übungen (siehe Kasten), wie man in stressigen Momenten wieder leichter zur Ruhe finden kann.

„Achtsamkeit bringt mehr Bewusstheit in unser Leben“

Expertin Mag. (FH) Doris Hartl im Interview

Frau Hartl, viele fühlen sich in der heutigen Zeit überfordert. Kann uns Achtsamkeit hier helfen?

Doris Hartl: Ja, gerade jetzt kann Achtsamkeit für viele Menschen eine wunderbare Hilfe sein – im Umgang mit schwierigen Gefühlen, belastenden Gedanken und ständigen Veränderungen. Neben den positiven Auswirkungen auf unsere körperliche und psychische Gesundheit bringt Achtsamkeit auch mehr Bewusstheit in unser Leben: Sie sensibilisiert unsere Eigen- und Fremdwahrnehmung, klärt unser Körpergefühl und stärkt unsere Selbstwirksamkeit.

Das klingt vielversprechend!

Achtsamkeit wird oft als Modewort abgetan, doch die tatsächliche Wirkung ist unglaublich lebensbereichernd. Aber: Nur die reine Erfahrung erweckt Achtsamkeit zum Leben. Ein Wort, das gelebt und weniger gedacht werden möchte.

Das Prinzip, im jeweiligen Augenblick präsent zu sein, klingt verlockend einfach. Warum fällt es uns trotzdem oft so schwer?

Weil wir in einem ständigen Tun-Modus sind und unser Leben eher denken, als es ganz zu erfahren. Wir legen weder gedanklich noch tatsächlich Pausen ein und hetzen von einem Termin, einer Aufgabe oder einem Ereignis zum nächsten. Oft werden die äußeren Umstände als Problem betrachtet, aber zentral ist die innere Haltung – zum Leben, zu den Mitmenschen und zu sich selbst. Und genau hier setzen wir im MBSR-Kurs an: bei uns selbst.

Was genau versteht man unter MBSR?

MBSR ist ein wissenschaftlichfundiertes Anti-Stress-Programm. Aus dem Englischen übersetzt (Mindfulness-based Stress Reduction) bedeutet der Begriff „Stressbewältigung durch Achtsamkeit“. Das achtwöchige Kursprogramm wurde 1979 von Prof. Dr. Jon Kabat-Zinn und seinem Team an der Universität von Massachusetts entwickelt und vereint aktuelle Erkenntnisse aus Medizin, Psychologie, Stress- und Kommunikationsforschung mit jahrtausendealtem Wissen über die positiven Auswirkungen von Meditation. Herzstück des Programms ist die Praxis der Achtsamkeit.

Und wie kann MBSR dabei helfen, Stress zu reduzieren?

MBSR unterstützt die TeilnehmerInnen dabei, Achtsamkeit in den Alltag zu weben, um mit Stress und den alltäglichen Belastungen besser umzugehen. Wir lernen, automatisierte und dysfunktionale Muster durch bewusstes Handeln zu ersetzen.

Was erwartet die Teilnehmer/-innen des MBSR-Kurses und an wen richtet sich dieser im Speziellen?

Der Kurs richtet sich an alle Menschen, die Stress als belastend erleben, aktiv an einer Verbesserung ihrer Lebensqualität arbeiten und bewusster leben wollen. Je nach Kursformat – 8 Wochen oder kompakt – widmen wir uns in jeder Einheit einem Schwerpunktthema, ergründen die Ursachen von Stress und setzen all das in das Licht einer achtsamen Lebensführung Selbstreflexion und der Austausch in der Gruppe sind dabei wertvolle Impulsgeber. Neben Theorie, Reflexion und Diskussion ist die formelle Übungspraxis – die Meditation – ein integraler Bestandteil von MBSR.

Wie sind Sie selbst einst zu MBSR und Achtsamkeit gekommen?

Ich selbst litt unter innerer Unruhe, Anspannung und dem Gefühl, ständig fremdbestimmt zu sein. Auf der Suche nach einer passenden Methode bin ich vor 10 Jahren auf einem Sitzkissen gelandet – und seither nicht mehr aufgestanden. Als ich dann einen MBSR-Kurs besuchte, war es für mich ein inhaltliches und methodisches Ankommen. Der säkulare Rahmen und wissenschaftliche Unterbau sowie zahlreiche Forschungsergebnisse, die die Wirksamkeit von MBSR belegen, überzeugten mich.

Und was hat sich dadurch für Sie verändert?

Ich bin gelassener geworden, klarer, selbstbestimmter und mein Denk- und Handlungsspielraum hat sich neu gestaltet: Von einem eingezäunten Vorgarten zu einer kunterbunten Wiese.

2 Übungen für mehr Ruhe im Alltag

Ein wichtiger und ganz zentraler Schlüssel der Achtsamkeitspraxis ist der Atem. Achtsame Atemzüge beruhigen Körper und Geist, da sie eher tief und langsam sind. Das aktiviert das parasympathische Nervensystem und hat zur Folge, dass der Stress abnimmt und wir ruhiger werden. Ein weiterer wichtiger Aspekt: Der Atem ist stets ein Anker für den gegenwärtigen Moment – und immer verfügbar.

1 Minute in Stille

Stellen Sie sich einen Timer, schließen Sie Ihre Augen und entspannen Sie sich. Richten Sie Ihre volle Aufmerksamkeit auf den Atem. Dabei kann es helfen, innerlich mitzuzählen. Erlauben Sie sich, diese Minute zu genießen, und wiederholen Sie diese Übung mehrmals täglich – als kurze Achtsamkeitspause.

Wohlfühlatmung

Bei dieser Übung verbinden wir den Atemfluss mit zwei Begriffen. So kann die Einatmung beispielsweise mit dem Wort „Ruhe“ und die Ausatmung mit dem Wort „Gelassenheit“ verbunden werden. Wir atmen Ruhe ein und Gelassenheit aus. Wiederholen Sie diese Übung für ein paar Atemzüge und passen Sie sie gegebenenfalls durch die Auswahl neuer Begriffe an.

Mag. (FH) Doris Hartl, MA, ist Eigentümerin von Aroha Consulting und Mindfulness-Trainerin & Coach, Dipl. MBSR-Trainerin vom IAS (Institut für Achtsamkeit und Stressbewältigung) und Mitglied der MBSR-MBCT Vereinigung Österreich.

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