Steigt unsere Entscheidungsqualität mit dem Umfang eingeholter Informationen? Nein, weiß Richard Friedl. In seinem Gastbeitrag erklärt er, warum das so ist.
Sie kennen das Gefühl wahrscheinlich selbst: Nach dem zeitaufwendigen Sammeln von mehr und mehr Informationen für eine wichtige Entscheidung, waren Sie sich Ihrer Sache wirklich sicher. Doch kann dieses Gefühl auch täuschen?
Stehen wir vor komplizierten oder komplexen Entscheidungssituationen und ist unsere Unsicherheit hoch, neigen wir zu intensiver Informationssuche. Ein neues Anwendungssystem oder ein anderes kompliziertes Produkt wird benötigt? Die Liste der Anforderungen an das Produkt steigt üblicherweise sehr schnell und oft auch die Liste der Kriterien, nach denen die Auswahl zu treffen ist. Mehr Kriterien und Anforderungen erwecken fürs Erste den Eindruck, die Entscheidung würde nun besser fundiert ausfallen können. Leider sind die wenigsten der so entstandenen Spreadsheets zuverlässig. Eine scheinbar geringfügige Änderung von Gewichtungen oder auch nur einer Bewertungsskala kann ein Ergebnis umdrehen.
Manchmal saugen wir auch vor einfachen Entscheidungen eine Unmenge an unnötigen Informationen auf. Sie sind nun mal da und leicht verfügbar. Doch was bringt uns ein „Meer“ an Informationen? Steigt unsere Entscheidungsqualität mit dem Umfang an eingeholter Information, wie es in der Markteffizienztheorie der Ökonomie angenommen wird?
Zur Beantwortung ein Beispiel aus der Wissenschaft
Paul Slovic ließ für ein bahnbrechendes Experiment 1973 Buchmacher bei Pferderennen 88 Variablen hinsichtlich ihrer Wichtigkeit für die Prognose des Zieleinlaufs reihen. Danach wurden Untersuchungsteilnehmern 5, 10, 20 oder 40 dieser Variablen vorgelegt, um auf Basis dieser Daten das Siegerpferd zu bestimmen. Auch wurde ihre subjektive Sicherheit hinsichtlich der Richtigkeit ihrer Angaben erfasst. Was passierte? Die Richtigkeit der Prognose stieg nur zu Beginn. Mit steigendem Datenumfang fiel die Qualität der Prognose ab. Stetig mit der Informationsmenge stieg hingegen die Zuversicht der Untersuchungsteilnehmer, dass ihre Prognose zutreffend ist. Die besten Entscheidungen wurden bei einer Informationsmenge zwischen 5 und 10 Variablen getroffen.
Gut, sagen Sie vielleicht, das waren halt Menschen, die auf Pferde wetten. Vielleicht ist so ein Ergebnis typisch für diese Gruppe, aber nicht auf andere übertragbar. Das dachte ich auch vor einigen Jahren und habe deshalb meine eigene, sozusagen vegan pferdefreie Version des Experiments gebaut und seither mehrfach durchgeführt. Die Vorbereitung war simpel: Ich habe, nicht ohne meine Gesundheit zu riskieren, alle Glasmurmeln aus einer Vase (eher ein dekoratives Arrangement meiner Frau) entleert und 102 blaue Murmeln gezählt. Dann habe ich alle Murmeln in eine kleinere, leere Vase gefüllt, kräftig geschüttelt (nein, es ist nichts zerbrochen) und fotografiert.
Das Experiment verläuft so: Ich zeige einzelnen Personen das Bild der Vase mit den Murmeln und ersuche sie um eine Abschätzung der Anzahl an blauen Murmeln. Ich notiere die Zahl deutlich sichtbar und frage, wie zufrieden die Person mit ihrer Schätzung ist (zu bewerten auf einer Skala von 0 bis 10).
Einer ungefähr gleichen Anzahl an Personen zeige ich, wiederum einzeln, ein erweitertes Bild. Im Unterschied zur ersten Personengruppe gibt es zahlreiche schriftliche Informationen, die – Sie vermuten es – ziemlich nutzlos sind. Ich ersuche die Personen, die Informationen zu lesen und erst dann eine Schätzung abzugeben. Interessanterweise nehmen sich die meisten Personen die Zeit, alles genau zu lesen. Danach wird geschätzt und wiederum folgt die Frage nach der Zuversicht zur eigenen Schätzung.
Nun zum Ergebnis des letzten Experiments, durchgeführt bei einer der raren Konferenzen im Herbst 2020. Das Resultat ist übrigens repräsentativ für alle bisherigen Experimente. Die Gruppe „nur Bild“ schätzte durchschnittlich 51,5 blaue Murmeln. Die Zuversicht lag im Schnitt bei 5,1 (von 10). Die Gruppe „Bild mit 17 Informationen“ schätzte durchschnittlich 32,8 blaue Murmeln und war damit wesentlich weiter weg von der 102-blaue-Murmeln-Wahrheit. Die Zuversicht lag im Schnitt beim erstaunlich hohen Wert von 6,9.
Führt mehr Information zu besseren Entscheidungen?
Nein. Zumindest nicht ab einer bestimmten Menge, denn die Informationsverarbeitung ist bei den meisten von uns auf 7±2 Elemente beschränkt. Weitere Informationen werden ignoriert oder führen zu einer Überforderung, die Entscheidungsunfähigkeit oder Verzerrungseffekte hervorruft.
Hingegen steigt mit dem Informationsumfang unsere Entscheidungssicherheit. Je mehr Informationen wir einholen (ja, auch wenn wir deren Qualität wie im Experiment als niedrig erkennen), desto größer ist unsere Zuversicht, die richtige Wahl getroffen zu haben. Dieses subjektive Sicherheitsgefühl lässt uns risikofreudiger werden. Das bleibt natürlich beim Schätzen von Murmeln ohne Folgen. Aber: Wir vernachlässigen Risiken. Und in wichtigen Lebensbereichen, beruflich wie privat, können in Folge Investitionssummen steigen oder Projektrisiken zunehmen. Auch sinkt mit zunehmender Informationsmenge unsere Bereitschaft, unsere Meinung zu ändern. Wir suchen nach bestätigenden Informationen und verschließen uns den Alternativen.
Digitalisierung ermöglicht uns eine wahre Informationsflut und damit die Gefahr, verzerrenden Gedächtniseffekten zu unterliegen. Je öfter wir eine gleichartige Information aufnehmen, desto leichter können wir uns an diese erinnern. Leicht abrufbare Informationen halten wir für wichtiger und glaubwürdiger. Sie bestimmen unsere Erwartungen an die Zukunft. Unsere Erwartungen an die Zukunft wiederum bestimmen unser Verhalten.
Was tun?
Mit dem Wissen über die Informationsillusion können Sie Ihre wichtigen Entscheidungen besser reflektieren. Wie viele Informationen haben Sie aufgenommen? Wie zuversichtlich sind Sie bezüglich der Entscheidungsqualität? Welche Entscheidung schlägt eine Person Ihres Vertrauens vor, der Sie nur wenige, aber wichtige Informationen zum Sachverhalt geben?
Ein praktisches Beispiel aus dem Berufsleben vieler Menschen ist die Evaluierung eines komplizierten Produkts. Stecken Sie dabei erstmal Ihre Energie in Diskussionen zur Reduktion und Bündelung von Anforderungen. Finden Sie heraus, welche Anforderungen erfüllt sein müssten, um die größte Wertschöpfung zu erzielen. Seien Sie also sparsam in der Anzahl der Anforderungen und Auswahlkriterien. Prüfen Sie Ihr Evaluierungs-Instrument (das wohl ein Spreadsheet sein wird): Ist das Instrument zuverlässig? Wurde es ausreichend getestet? Prüfen die Kriterien das, was schlussendlich zur Wertschöpfung nötig ist? Und später: Erfolgten die Bewertungen objektiv?
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Erstaunlich gut entscheiden
Richard Friedl, BA MA, ist Österreichs erster zertifizierter ITIL Expert und hat bereits 1989 sein erstes Service-Management-Projekt durchgeführt. Nach Jahren im Bankrechenzentrum und als Analyst und Consultant bei META Group gründete er 2002 sein eigenes Unternehmen. Daraus ging 2005 die ITSM Partner Consulting GmbH hervor. Er ist Berater, Trainer, Keynote Speaker, Buchautor und externer Dozent an der FH Burgenland.
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